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  • AutorenbildMaria Brader

Lifta – das „palästinensische Pompeii“



Wir schnüren unsere Schuhe und schultern unsere Rucksäcke. Es ist Shabbat, die Straßen sind ausgestorben bis auf wenige Synagogengeher*innen und ein paar fleißige Sportler*innen.

Diese Ruhe, die sich an Shabbat über diesen Teil der Stadt breitet, stimmt uns schon auf unser Vorhaben ein: Wir wandern nach Lifta, welches von den ansässigen Zeitungen das „palästinensischer Pompeii“ getauft wurde. Es handelt sich dabei um einen ehemaligen Vorort Jerusalems, welcher 1947/48 im Palästina-Krieg von der ansässigen Bevölkerung verlassen wurde. Heute ist der Ort Teil eines Nationalparks, der Joshuas Neftoachquelle bezeichnet.

An die arabisch-muslimische Bevölkerung, deren Verschwinden Gegenstand unterschiedlicher Theorien ist, erinnern heute noch die leerstehenden Häuser, die langsam verfallen und ein Eigenleben zwischen wuchernden Kakteen, Mülldeponie und Graffitigallerie entwickelt haben.


Wir steigen in das Tal hinab, das Dorf Lifta erstreckt sich auf den Hang je links und rechts von uns. Wir nehmen uns erst den linken Aufstieg vor, folgen einem schmalen Trampelpfad und steigen über den Stacheldraht, der früher vielleicht einmal eine Schutzmaßnahme darstellte, heute aber, zertrampelt von hunderten von Abenteurer*innen, kein nennenswertes Hindernis bildet.

Die Dachstreben dieses Hauses liegen wie übergroße, verbogene Mikado-Stäbchen am Boden. Wir bahnen uns den Weg vorbei, hin zu dem großen, dreiteiligen Fenster an der Längsseite des Gebäudes.




Der Ausblick, der sich hier bietet, ist atemberaubend. Wie es wohl gewesen sein muss, hier zu leben? Bevor der Ort verlassen wurde, bevor die Autobahnen und das wachsende Jerusalem den Ort in die Zange nahmen, bevor die Strom- und Internetleitungen das Tal überhangen?

Statt des Autolärms füllten wohl das Blöken von Ziegen und das Gackern von Hühnern das Tal, vielleicht auch das Anpreisen von Waren, die Gespräche auf dem Dorfplatz, das Plaudern der Frauen beim Sticken der traditionellen Kleider, das Rufen des Muezzins zum Gebet.

Sicher darf man sich das Leben hier wohl nicht zu romantisch vorstellen – doch durch den Kontrast der jetzt bestehenden Idylle und dem sonst lauten Stadtleben drängt sich dieses Traumbild fast auf.


Wir erkunden weiter die leeren Häuser. Einige zeigen Spuren einer zeitweisen Bewohnung auf – wahrscheinlich durch sonst Wohnungslose. Manche Szenen könnten direkt aus einem Horrorfilm sein…





… andere laden ein, zu verweilen, und den Blick auf den gegenüberliegenden Hang zu genießen.





Wir schlängeln uns auf dem engen Pfad durch die Kakteen entlang, auf der Suche nach der Moschee und dem Friedhof. Eine legendarisch anmutende Deutung der Kakteen lautet, dass überall wo im Land Kakteen wachsen, arabische Dörfer gewesen waren. Diese wären entweder als Tierzäune gepflanzt worden, oder Soldaten der IDF hätten sie gepflanzt, um diese Orte zu verstecken.


Egal ob in dieser Erklärung ein Körnchen Wahrheit steckt oder nicht, die Kakteen leisten auf jeden Fall beides: Sie blockieren die Zugänge zu einigen Ruinen und verstecken andere ganz. Nur wenige dieser Häuser können wir erschließen, wir finden weder Moschee noch Friedhof.





Doch dafür machen wir eine andere Entdeckung: Ein riesiges Gebäude, zwei Stockwerke und Keller, alle verbunden durch riesige Löcher in den Böden. Wir klettern an den Nischen vorbei, die uns wie Lagerräume anmuten, und spähen in den Keller. Das hintere Ende des Raumes wird von einer Olivenpresse eingenommen, die, wie es schon seit der Antike üblich ist, aus einer großen runden Basis, einen aufrecht stehenden Mühlstein und einer dicken Holzstange besteht, mit der man den Mühlstein in seine immer gleichen Bahnen zwingen kann.





So sind wir schon am Ende des Dorfes angekommen. Die Kakteen und Ruinen geben uns den Weg frei zu einem letzten wunderbaren Ausblick auf Lifta, das viel größer war als es auf den ersten Blick schien: Ein Dorf, versteckt unter Kakteen, und Erinnerungen, vergraben unter einer Schicht des Vergessens.


„Wie jener, der an einer Stadt vorüberging, die war zerstört bis auf den Grund. Er sprach: ‚Wie kann sie Gott nach ihrem Untergang wieder aufleben lassen?‘ Da ließ Gott ihn für hundert Jahre tot sein, dann erweckte er ihn wieder. Er sprach: ‚Wie lang hast du verharrt?‘ Er sprach: ‚Ich habe einen Tag verharrt oder nur einen Teil des Tages.‘ Er sprach: ‚Nein! Du verharrtest hundert Jahre. Nun betrachte deine Speise und dein Getränk: Sie sind noch nicht verdorben […].‘ Als es ihm klar geworden war, sprach er: ‚Jetzt weiß ich: Gott ist aller Dinge mächtig.‘“ (Koran, Sure 2:260)

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